«Diesmal mussten wir Taten vollbringen», BZ, 18.11.

Belp, Das Kirchenasyl für zwei Flüchtlinge aus Eritrea ist be­endet. Für die Verantwortlichen ist klar: Sie konnten nicht anders handeln. Und sie haben sich mit ihrem Engagement nicht ausserhalb des Rechts bewegt.

Am Donnerstagmorgen um 8.30 Uhr in Belp. Rund 20 Personen haben sich zum Gebet in der reformierten Kirche versammelt. «Guter Gott, wir sind so dankbar», spricht Pfarrerin Michaela Schönberger in die Runde: «Bisher kannten wir deine alten Wundergeschichten aus der Bibel. Jetzt kennen wir eine neue. Und wir sind froh, dass wir daran einen kleinen Anteil haben.»

Seit dem 10. Oktober hatte die Kirche Freweyni Beyene und ihrem Sohn Nimerod Kirchenasyl gewährt. Damit wollte sie erreichen, dass die gemäss Gutachten traumatisierte eritreische Kleinfamilie nicht nach Italien ausgeschafft wird, wie es gemäss Dublin-Abkommen hätte passieren müssen. Stattdessen sollte sie in der Schweiz ein Asylgesuch stellen können.

So ist es auch gekommen. Diese Woche ordnete das Staatssekretariat für Migration (SEM) an, dass das Asylverfahren wieder aufgenommen wird. Laut Sprecherin Léa Wertheimer hat die «aktuelle Aktenlage» zum Entscheid geführt. Die Verantwortlichen der Kirche verstehen ihn als einen humanitären Akt.

Lob, aber auch Kritik

Nun geht für sie eine aufregende Zeit zu Ende, die in den Herbstferien begann. «Für mich stand sofort fest, dass wir helfen müssen», sagt Kirchgemeinderätin Esther Brunner. «Sonst wären wir als Kirche unglaubwürdig.» In der Kirche höre man immer schöne und gute Worte. «Diesmal mussten wir Taten vollbringen – obschon wir nicht wussten, was auf uns zukommt.»

Für ihr Engagement bekam die Kirche viel Lob. «99 Prozent der Reaktionen, die direkt zu uns ­gelangten, waren positiv», sagt Pfarrer Michel Wuillemin. Die Kirche bekam aber auch Kritik zu hören. Nicht nur in Internetforen, sondern auf dem Kirchplatz. Manche Leute fänden das Kirchenasyl grundsätzlich schlecht, sagt Pfarrer René Schaufelberger. «Andere haben grosse Mühe damit, dass wir als Kirche womöglich das Recht ritzen.»

«Ethische Motive»

Bei strenger Auslegung könne ein Kirchenasyl als gesetzeswidrig beurteilt werden, sagte in dieser Zeitung Pia Grossholz, Vizepräsidentin des Synodalrats der Reformierten Kirche Bern-Jura-Solothurn. Dennoch ist für sie ein ­Kirchenasyl vertretbar, da es aus «ehrenwerten ethischen Motiven» geschehe.

SEM-Sprecherin Wertheimer wies am Mittwoch darauf hin, dass asylsuchende Personen verpflichtet sind, sich den zuständigen Behörden zur Verfügung zu halten. «Es wäre entgegen den rechtsstaatlichen Prinzipien der Schweiz, wenn sich Asylsuchende durch ihr Unterkommen in einer Kirche den Behörden entziehen und so eine Wegweisung vereiteln könnten.»

So weit ist es in Belp nicht gekommen. Es war der Entscheid des kantonalen Amts für Migration und Personenstand, die Frist am 4. November verstreichen zu lassen. Polizeidirektor Hans-Jürg Käser (FDP) begründete dies mit der Suiziddrohung der Frau: «Falls etwas passiert wäre, hätte es Schuldzuweisungen an die Polizei gegeben.»

Das Recht «verfeinert»

Der Kirchgemeinde wurde dennoch vorgeworfen, sie handle ausserhalb des Rechts. Pfarrer Schaufelberger hat dazu eine klare Meinung: Mit ihrem Engagement habe sie sich gerade nicht in einem rechtsfreien Raum bewegt. «Dieser Begriff suggeriert Gewalt, Unterdrückung.» Solche Zustände gebe es in Gesellschaften, wo Banden oder die Mafia das Sagen habe.

«Aber bei uns sind die Behörden und die Justiz nicht zusammengebrochen, und wir respektieren diese Institutionen.» Im vorliegenden Einzelfall habe die Kirche die Behörden nur darauf aufmerksam gemacht, dass innerhalb dieses funktionierenden Systems in einer Ausnahmesituation womöglich etwas falsch gelaufen sei. «Damit haben wir das Recht verfeinert.»

Widerstand geleistet

Als einen «Akt der Menschlichkeit und Nächstenliebe» versteht Pfarrer Wuillemin das Kirchenasyl. «Es muss in einer Demokratie Instanzen geben, die den Staat an diese Werte erinnern.» Das könne Amnesty International sein oder eben die Kirche. «Deswegen müssen sich Politiker nicht infrage gestellt fühlen.»

Für Kirchgemeindepräsident Werner Zingg ist allerdings auch klar: Die Kirche hat Politik gemacht. Auch dafür wurde sie kritisiert. «Aber die gleichen Leute, die uns diesen Vorwurf machen, leisten heftig Widerstand, wenn beispielsweise ein Asylzentrum eröffnet wird.» Hier habe die Kirche auch Widerstand geleistet. «Dies erachteten wir als unseren christlichen Auftrag», sagt Zingg.

Ein neues Zuhause

Nach einer halben Stunde endet die Zusammenkunft in der Kirche. Die Teilnehmenden haben gebetet, gesungen, fünf Minuten geschwiegen. Und am Schluss je eine Kerze für die Flüchtlinge dieser Welt und für Freweyni und Nimerod Beyene angezündet.

Deren neues Zuhause ist seit Donnerstag das Asylzentrum Aeschiried. (Berner Zeitung)

(Erstellt: 18.11.2016, 06:16 Uhr, von Johannes Reichen)

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